Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern

Wenn auf ein „Nein“ ein „Nein“ folgt: die Entdeckung der Freiwilligkeit

Im Umgang mit Kindern stosse ich* immer wieder auf un- oder halbbewusste, verinnerlichte Überzeugungen mit denen mir in meiner Kindheit begegnet wurde oder die im „Erziehungsdiskurs“ sehr weit verbreitet sind. Die „richtige Erziehung“ ist ein extrem aufgeladenes Thema. Ständig droht die Möglichkeit als Eltern zu scheitern und die Scham, die damit verbunden ist.

Wie ich mit diesen Überzeugungen umgehe, hat einen enormen Effekt darauf, wie sich mein Verhältnis zu meinem Kind gestaltet. Ich möchte eine ganz alltägliche Situation, die tatsächlich so passiert ist, zum Ausgangspunkt nehmen, um ein paar Gedanken dazu zu entwickeln, wie bedürfnisorientierte und gewaltfreie Kommunikation mir ermöglicht, eine ganz neue Perspektive auf das Elternsein einzunehmen. Denn es sind oft die ganz kleinen, scheinbar unbedeutenden Situationen, die in einen totalen Kampf eskalieren oder zu anhaltender Unzufriedenheit und Gefühlen der Unzulänglichkeit führen können.

Das Kind (nicht ganz zwei Jahre alt) möchte Saft trinken. Ich gebe ihm einen Becher und er läuft, trinkend, los. Ohne, dass ich groß nachdenke, rutscht mir ein reflexhaftes „Stopp“ heraus. In meinem Kopf sehe ich den Saft auf dem Boden (wer wischt den auf – ich!), ein saftdurchtränktes Kind (wer zieht ihn gegen seinen lautstarken Protest um – ich!). Ich sage: „Bitte bleib stehen, solange du trinkst.“ Er bleibt kurz stehen, lacht mich an, läuft trinkend weiter. Ich habe es nicht geschafft mein Kind dazu zu bringen, das zu tun, was ich wollte. Jetzt geht der Gedankensalat erst richtig los. Sätze aus verschiedenen Artikeln/Büchern über gute Erziehung, vor allem darüber, dass man konsequent sein muss, drängen sich in meinen Kopf: „Du musst dem Kind Grenzen setzen, sonst tanzt er dir auf der Nase herum“ – „Ich kann ihm nicht alles durchgehen lassen“ – „Obwohl du ihn freundlich gebeten hast, hält er sich nicht dran. Respektiert er dich nicht?“ – „Gebe ich ihm genug Orientierung?“ – Andere, gewaltfrei inspirierte Stimmen regen sich ebenfalls: „Warum fällt dir nicht sofort eine Lösung ein, die für alle einvernehmlich gut ist?“ Mir  ist ein bisschen mulmig, ein Unbehagen regt sich in mir.

Ich spiele im Kopf die Szenarien durch, die eine „konsequente Haltung“ bedeuten würde. Das nicht unwahrscheinliche worst case Scenario: Ich gehe zu ihm, sage nochmals „Nein“, versuche ihm den Saft aus der Hand zu nehmen, er hält fest und fängt an zu schreien, wir rangeln um den Becher – plötzlich beide im Selbstbehauptungsmodus –, der Saft fliegt durch die Gegend, jetzt sind wir beide nass und auch der Boden. Ich muss alles machen, was ich vorher befürchtet habe und bin zusätzlich erschöpft von der Auseinandersetzung. Er hat vermutlich gelernt, dass das, was er wollte, irgendwie falsch war, wenn ich mit solch drastischen Mitteln dagegen vorgehe. Seine Position ist durch mein Handeln delegitimiert und gleichzeitig kann ich kaum Verständnis von seiner Seite erwarten. Wir grummeln beide und fühlen uns mies. Keine attraktive Option. Ist die Alternative, erschöpft zu seufzen, das Gefühl zu haben eingeknickt zu sein, irgendwie versagt zu haben und schon mal den Lappen zu holen? Ist es nicht ein Versagen in meiner Erziehung, wenn mein Kind nicht das macht, was ich möchte? Warum fühlt es sich nach einem entweder/oder von Überwältigung oder Unterwerfung an?

Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und eine Leichtigkeit macht sich breit: Mein Kind traut sich, eine eigene Entscheidung zu treffen. Er hat sich meinen Vorschlag angehört und entschieden, ihn nicht anzunehmen. Das trinkend Herumlaufen bringt ihm anscheinend gerade Spaß, er traut es sich zu und tut es auch. Er fühlt sich selbstbestimmt, weil er entscheidet, was mit der Tasse in seiner Hand passiert. Er tut dies nicht, um mich zu ärgern, will mir keine Arbeit damit bereiten, sondern seinen Bedürfnissen nach Spiel, Autonomie und Ausprobieren nachkommen. Das kann ich gut nachvollziehen. Ich freue mich, dass er weiß, was er will und sich auch dafür einsetzt. Ich will mein Kind doch darin unterstützen seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Dieser Gedanke ist für mich nicht neu, doch aber, was dies „konsequent“ bedeutet: Freiwilligkeit kann nicht heißen, dass er immer total freiwillig das tut, was ich mir gerade wünsche, sondern beinhaltet, dass er den Mut hat, mir „nein“ zu sagen oder zu signalisieren. Und genau das ist gerade passiert. Ich freue mich und atme erleichtert auf. Die Enge in meiner Brust ist weg, keine Scham mehr und keine Schuldgefühle. Meine veränderte Perspektive hat die ganze Situation verändert.

Ich wünsche mir trotzdem Wertschätzung dafür, dass ich vielleicht am Ende eine Sauerei wegwischen muss. Offensichtlich brauche ich Entlastung, Unterstützung; ganz legitime Bedürfnisse meinerseits, die in keiner Weise durch den gerade noch drohenden, kräftezerrenden Machtkampf erfüllt worden wären. Und plötzlich fällt mir auf, wie oft mein Kind genau das macht, was ich von ihm möchte, obwohl es für ihn Mühe und Unbequemlichkeit bedeutet: ständig festgeschnallt im Fahrradsitz, nerviges Lätzchen um den Hals dulden, so oft in Eile irgendwohin, wo es doch so viel Spannendes genau jetzt zu erkunden und zu bespielen gibt. Nehme ich das einfach für selbstverständlich oder wertschätze ich seine ständige Unterstützung meiner Prioritäten? Plötzlich kommt mir das Aufwischen – was in diesem Fall auch nur eine Fantasie war, weil er diesmal gar nichts verplörrt hat – gar nicht mehr so groß vor und ich bin froh, mein frühzeitiges „Nein“ revidieren zu können.

Warum denke ich so oft reflexhaft, ich müsste auf meiner Position beharren, mich über das „Nein“ des Kindes hinwegsetzen, anstelle unseren Bezug als eine Kooperation zu betrachten, in der wir uns jeweils so viel Freiraum wie möglich schaffen? Wie wäre es, das „Nein“ ernst zu nehmen und dem Kind zuzutrauen so viel wie möglich selbst zu entscheiden? Von der Ebene der Glaubenssätze auf die Ebene der Bedürfnisse zu gehen, ermöglicht es mir zu einem Miteinander zu finden. Nicht um das Kind besser zu manipulieren, sondern um einen Weg zu finden, mit dem wir uns beide möglichst viel Handlungsspielraum verschaffen.

Es gibt Momente, in denen dieser Freiraum nicht gegeben ist und ich meine Wünsche gegen mein Kind durchsetze. Immer wenn Gefahr im Spiel ist, oft aber auch einfach, weil ich damit für mich und meine Bedürfnisse sorge. Es gibt jedoch ebenso viele Momente, in denen ich mir gar nicht die Frage stelle, ob es einen anderen Weg gibt, obwohl meine einschränkende Reaktion weder meinen noch seinen Bedürfnissen dient. Es ist enorm befreiend, mich nicht durch mein eigenes „Nein“ selbst in eine Ecke zu manövrieren, in der ich nicht sein will. Mir auch Freiwilligkeit im Umgang mit meinem „Nein“ zuzugestehen. Wenn es mir reflexhaft rausgerutscht ist, die Frage zuzulassen: „Warum eigentlich nicht?“ und es gegebenenfalls zurückzunehmen ohne dies als Gesichtsverlust zu erleben. Mir vorzustellen, was wir beide jeweils in dem Moment brauchen. Die Selbstverantwortung für meine Bedürfnisse zu übernehmen und mein Kind darin zu unterstützen, dies in seinem in der Kinderrolle etwas eingeschränkten Rahmen auch zu tun.

Manchmal werde ich Sachen machen, mit denen er nicht einverstanden ist. Manchmal wird er Sachen machen, mit denen ich nicht einverstanden bin. Auch das ist in Ordnung und kein Versagen auf irgendeiner Seite, lediglich ein Zeichen, dass wir in dem Moment nicht die Geduld oder Zeit hatten, nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Bedürfnisorientierte Kooperation führt nicht dazu, dass alle immer das bekommen, was sie sich in einem Moment wünschen. Sie bedeutet für mich, dass sowohl Eltern als auch Kinder mit all ihren Bedürfnissen da sein dürfen, dass es ein Kommunikationsprozess ist, bei dem das Ziel darin besteht, möglichst viele Bedürfnisse mit Freiwilligkeit zu erfüllen und diejenigen, die nicht erfüllt werden, wertzuschätzen und Trauer oder Wut über die fehlende Erfüllung zuzulassen. Sie erlaubt mir, mich von der Herangehensweise des (Er-)Ziehens am Kind, zur Betrachtung der Eltern-Kind-Beziehung als Teamwork basierend auf wechselseitiger Unterstützung und Selbstverantwortung zu gelangen. Mit der Entscheidung gegen bestimmte Glaubenssätze traditioneller Erziehungstheorien ermögliche ich sowohl mir als auch meinem Kind ein Mehr an Freiwilligkeit und Autonomie, dass nicht auf Kosten unserer wohlwollenden Verbindung zueinander geht.

* der Artikel ist ein Gemeinschaftswerk der Agentur für Handlungsfähigkeit, in dem wir eine real mit einem Kind erlebte Situation und unsere gemeinsame Reflexion darauf zusammenbringen.