Brené Brown: The Gifts of Imperfection

Brené Brown: The Gifts of Imperfection – Let Go of Who You Think You’re Supposed to Be and Embrace Who You Are.

„Owning our stories can be hard but not nearly as difficult as spending our lives running from it. Embracing our vulnerabilities is risky but not nearly as dangerous as giving up on love and belonging and joy – the experiences that make us the most vulnerable.“ (6)

Das Buch „The Gifts of Imperfection” hat mich nicht sofort angesprochen, da es mir trotz des vielversprechenden Titels auf den ersten Blick nach einem Ratgeber mit Plattitüden zum Glücklich-werden aussah. Jetzt bin ich dankbar, dass ich trotzdem anfing es zu lesen. Ich war erstaunt über die breite Resonanz, die es in mir auslöste. Es waren besonders die eindrücklichen Beispiele aus Browns eigenem Leben, die mich berührten. Manchmal musste ich laut loslachen, manchmal kamen mir fast die Tränen, oft musste ich Schmunzeln oder Seufzen, weil ich mich ertappt, erkannt oder verbunden fühlte .

Die Schamforscherin Brené Brown teilt mit uns ihre andauernde Reise von einem Leben bestimmt von Leistung, Anpassung und Konkurrenz zu einer Alltagspraxis orientiert auf Einfühlung, Verbindung und Authentizität. Dies bezeichnet sie als Wholehearted Living. Beim Versuch festzustellen, was Leute, die wholehearted leben, von denen unterscheidet, die es nicht tun, erlebt sie den Schock ihres Lebens: sie hatte angenommen, dass diese Leute alles ungefähr so machen wie sie und stellt nun mit Entsetzen fest, dass es sich genau gegenteilig verhält. Sie beschreibt ihren Unglauben und ihre Widerstände und wie sie sich letztlich entschieden hat (und sich jeden Tag wieder neu entscheidet) ihr Leben anders, wohltuender zu gestalten. Das Besondere an dem Buch ist, dass Brown in diesem Prozess nicht nur eine Reihe von Begriffen in einer gleichermaßen analytischen und einfühlsamen Weise neu bestimmt und dass sie eine Reihe von Wegweisern zum Wholehearted Living formuliert. Sie praktiziert auch selbst den wertschätzenden Umgang mit ihrer Scham, sich selbst unzureichend zu fühlen in ihrem eigenen Schreiben und demonstriert so, was es heißt, aus einem Gefühl der Selbstwertschätzung/Selbstliebe zu handeln.

Wholehearted Living nach Brown ist kein Zustand, den man erreicht, sondern eine alltägliche Praxis, für die wir uns immer wieder neu entscheiden können. Es geht darum, unser Leben so zu gestalten, dass wir authentisch sein können, dass wir uns verbunden fühlen, dass wir Freude und Schmerz erleben können, dass wir uns lebendig fühlen. „Wholehearted living is about engaging in our lives from a place of worthiness. It means cultivating the courage and compassion, and connection to wake up in the morning and think No matter what gets done and how much is left undone, I am enough. It’s going to bed at night thinking, Yes, I am imperfect and vulnerable and sometimes afraid, but that doesn’t change the truth that I am also brave and worthy of love and belonging.“ (1)

Alle Menschen brauchen Liebe und Zugehörigkeit. Unser Perfektionismus verspricht uns immer wieder, dass wir diese erfahren, wenn wir dies oder jenes erreicht haben. Er fordert von uns, dass wir uns von eigenen Anteilen distanzieren, die nicht damit übereinstimmen, wer wir denken, sein zu sollen. Wir versuchen dann, so Brown, Selbstwert darüber herzustellen, zu performen, zu befriedigen, zu beweisen. Das Höchste, was wir dadurch erreichen können ist „Reinpassen“. Dies ist jedoch nicht das Gleiche wie Zugehörigkeit. „Belonging is the innate human desire to be part of something larger than us. Because this yearning is so primal, we often try to acquire it by fitting in and by seeking approval, which are not only hollow substitutes for belonging, but often barriers to it. Because true belonging only happens when we present our authentic, imperfect selves to the world, our sense of belonging can never be greater than our level of self-acceptance.“ (26) Reinzupassen erfordert sich anzupassen, sich zu verändern. Zugehören erfordert, die Person zu sein, die man ist. Die Krux und gleichzeitig die Chance an dem Ganzen ist, damit bei uns selbst anzufangen: „If we want to fully experience love and belonging, we must believe that we are worthy of love and belonging.“ (23) Echte Zugehörigkeit und Liebe entsteht nach Brown dann, wenn wir uns selbst mit Selbstwertschätzung begegnen, wenn wir den Mut haben uns mit all unseren Stärken und Widersprüchen sichtbar zu machen, wenn wir uns trauen, in die Verbindung zu gehen, weil wir wissen, dass alle Menschen ebenso wie wir mit ihren vermuteten Unzulänglichkeiten kämpfen. Die größte Herausforderung ist, für uns daran zu glauben, dass wir jetzt in diesem Moment wertvoll sind. Nicht erst: wenn ich dies oder jenes erreicht habe, dann… Wir sind wertvoll jetzt. Nicht, falls…, nicht wenn. Wir sind genau jetzt wert geliebt zu werden und zuzugehören.

Brown fragt, was dem Wholehearted Living im Weg steht und beschreibt die Macht der Scham. Scham ist ein Gefühl, dass alle Menschen miteinander teilen und dass uns existenziell betrifft. Scham sagt uns, dass wir falsch sind. Scham ist die Angst davor, nicht liebenswert zu sein, es nicht zu verdienen, zuzugehören. Scham ist die Angst, dass Leute uns nicht mögen, wenn sie unser authentisches Selbst kennenlernen. Scham bewirkt, dass wir uns klein, defekt, und nie gut genug fühlen. Brown beschreibt ihre physischen Reaktionen auf Scham: trockener Mund, Zeit wird langsamer, Tunnelblick, heißer Kopf, Herzrasen. Im Kopf: In Zeitlupe wird eine unangenehme Situation immer wieder abgespielt. Scham ist motiviert von unserem Bedürfnis nach menschlicher Verbindung und Empathie, aber ihre Strategien sind in höchstem Maße kontraproduktiv. Scham wird auch als „Master Emotion“ bezeichnet, weil sie unser Verhalten in ganz vielen Hinsichten reguliert, wir werden geradezu von ihr überwältigt. Oft reicht die Angst vor Scham schon aus, um uns völlig zu paralysieren. Wir haben Angst, dass eine einzige Erfahrung das Gesamturteil über uns selbst bestimmen wird, obwohl es nur ein Schnipsel von dem ist, wer wir sind. Weil Scham selbst schambesetzt ist, sind wir selten vertraut damit, uns über Scham auszutauschen. Und Scham floriert in der Verborgenheit. Je weniger wir darüber reden, desto mehr Macht hat sie über uns.

Brown beschreibt drei übliche Varianten, mit Scham umzugehen: (1) sich von der Scham wegzubewegen. Wir ziehen uns zurück, verlassen eine unangenehme Situation, schweigen, bewahren Geheimnisse. (2) Wir bewegen uns auf die Scham zu. Wir versuchen zu gefallen, versuchen den Urteilen zu entsprechen, es recht zu machen. (3) Wir bewegen uns dagegen. Wir werden aggressiv, versuchen die Macht über die Situation oder andere zu erhalten, beschämen, um Scham zu bekämpfen. All diese Strategien bringen uns weg von uns selbst und von dem, was wir uns eigentlich wünschen. Die Kunst ist es, einen Weg zu finden, angesichts der Scham handlungsfähig zu bleiben. Was sind unsere Schamsymptome, wie können wir Strategien entwickeln, angesichts von Scham freiwillig und absichtsvoll agieren zu können und wie können wir den Mut aufzubringen, darüber in Verbindung zu gehen?

Es geht nicht darum, Scham zu ignorieren, sondern eine Kraft zu entwickeln, ihr zu begegnen/mit ihr in einer wohltuenden Weise umzugehen. Ein wesentliches Moment davon ist, die Scham zu teilen, sich darüber auszutauschen, zu uns und unserer Geschichte zu stehen, mit allem was dazu gehört. Das heißt nicht, unsere Geschichte mit allen teilen zu müssen, sondern sie mit denen zu teilen, die uns mit unseren Stärken und dem, was uns schwer fällt, wohlwollend annehmen. Wichtig ist auch für uns selbst dort anzufangen: wir sind wertvoll.

Brown gibt uns 10 Wegweiser (guideposts) mit, die sie in ihrem Alltag unterstützen, ein Leben mit Mut, Mitgefühl und in Verbindung zu führen. In jedem dieser Aspekte ermutigt sie uns, aus einem Gefühl der Freiwilligkeit zu handeln, uns inspirieren zu lassen, um neue und andere Entscheidungen zu treffen und in Aktion zu treten, unsere Ziele tatsächlich umzusetzen (sie bezeichnet diesen Dreischritt als DIG Deep). Jeder Guidepost endet mit einem Beispiel, wie sie versucht den jeweiligen Aspekt umzusetzen. Dies kann ich hier nicht wiedergeben, aber allen, die sich praktische Anregungen wünschen, kann ich empfehlen, sich diese Abschnitte durchzulesen.

 Guideposts

1. Authentizität kultivieren – Loslassen, was Leute über dich denken

„To be nobody-but-yourself in a world which is doing its best, night and day, to make you everybody-but-yourself – means to fight the hardest battle which any human being can fight – and never stop fighting.“ (E.E. Cummings, zit. nach Brown, 51)

Authentizität ist nicht etwas, das wir haben oder nicht haben, sondern eine Praxis. Es ist eine Reihe von Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen: Präsent zu sein und real. Unser wirkliches Ich sichtbar zu machen. Die Idee, dass wir es selbst entscheiden können, kann uns gleichermaßen hoffnungsvoll machen und erschöpfen, weil es uns auf unsere Selbstverantwortung zurückwirft, die einerseits heißt: yay, wir können es selbst machen, und andererseits: ohje, wir müssen es selbst machen.

Authentizität zu wählen heißt:

  • den Mut zu entwickeln, unvollkommen zu sein, Grenzen zu setzen und verletzbar zu sein.
  • Mitgefühl aus dem Wissen zu praktizieren, dass wir alle manchmal stark sind und manchmal straucheln.
  • die Verbindung und das Gefühl der Zugehörigkeit nähren, die dann passieren, wenn wir daran glauben, dass wir genug sind.

Sich für Authentizität zu entscheiden in einer Gesellschaft, die uns permanent diktiert, wie wir sein sollen, ist eine Herausforderung. Authentizität ist nicht immer die sicherste Option. Es kann auch passieren, dass Leute uns in unserer Authentizität zurückweisen. Authentizität zu wählen erfordert daher auch den Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen. Verletzlich zu bleiben ist ein Risiko, dass wir eingehen, wenn wir tiefe Verbindung erfahren.

2. Selbsteinfühlung/Selbstwertschätzung kultivieren – Perfektionismus loslassen

„A moment of self-compassion can change your entire day. A string of such moments can change the course of your life.“ (Germer, Christopher, zit. nach. Brown, GoI, 59)

Unser Perfektionismus steht uns oft im Weg, verständnisvoll und wohlwollend auf uns selbst zu blicken. Brown beschreibt sich selbst als „recovering perfectionist and an aspiring good-enoughist“. Perfektionismus ist ein Schild gegen Verurteilungen, Schuldzuweisungen und Scham. Die Strategie des Perfektionismus entfernt uns jedoch von uns selbst. Perfektionismus versucht Bestätigung und Akzeptanz zu erlangen. Seine Leitfrage ist stets: Was denken die anderen? Das Resultat von Perfektionismus ist meistens Lähmung, Unruhe, Anspannung und Depression. Er hält uns davon ab, mit Dingen in die Welt zu treten, die unvollkommen sind. (So viele verflossene Gelegenheiten…)

Wenn wir uns selbst mit Einfühlung und Verständnis begegnen, können wir unsere Unvollkommenheiten annehmen. Statt uns zu verurteilen und zu schämen können wir unsere guten Intentionen wertschätzen, uns daran erinnern, dass wir es so gut machen, wie wir in einem bestimmten Moment können.

3. Einen widerstandsfähigen Geist kultivieren – Die Betäubung und Ohnmacht loslassen

Bei dem Versuch herauszufinden, was Menschen auszeichnet, die Wholeheartedness praktizieren, stieß Brown darauf, dass sie eine Widerstandskraft angesichts von Herausforderungen aufweisen und diese mit verschiedenen Faktoren einhergeht. Ein entscheidender Faktor besteht darin den Mut aufzubringen, Hilfe anzunehmen, ein Unterstützungsnetzwerk z.B. in Form von Freunden und Familie zu haben. Brown beobachtete außerdem, dass Leute mit einer hohen Widerstandskraft Spiritualität praktizierten, im Sinne eines Glaubens daran, dass wir als Menschen untrennbar miteinander verbunden sind und diese Verbindung auf Liebe und Mitgefühl basiert. Für Brown spielt Gott (oder irgendeine höhere Macht) als Bezugspunkt eine entscheidende Rolle. Da dies sich für mich nicht stimmig anfühlt, möchte ich den Aspekt nicht vertiefen, aber alle einladen, Browns Gedanken dazu selbst nachzulesen. Gleichzeitig kann ich mit dem essentiellen Punkt, um den es Brown an dieser Stelle geht, nämlich Verbindung und Sinnhaftigkeit – sich in dem Ganzen nicht allein zu fühlen – als Quell von Widerstandskraft, sehr viel anfangen.

Brown beschreibt drei Praktiken, mit denen wir unsere Widerstandsfähigkeit nähren können.

  • Hoffnung: dies beinhaltet für Brown die Fähigkeit realistische Ziele zu setzen, einen Weg zu finden, wie sie verwirklicht werden können, Flexibilität und Ausdauer zu haben, wenn es nicht beim ersten Versuch klappt, und das Vertrauen, dass wir es schaffen können.
  • Kritisches Bewusstsein praktizieren: eine kritische Haltung gegenüber den normativen Bildern entwickeln, die uns jeden Tag erneut sagen, wer wir sein sollen. Ebenfalls den großen Zusammenhang sehen, dass alle mit den vorgesetzten Idealen kämpfen und wir damit nicht allein sind.
  • Aufhören uns zu betäuben. Wenn wir uns schlecht fühlen, versuchen wir oft, die negativen Gefühle zu betäuben. Wir alle machen das in der einen oder anderen Weise und mehr oder weniger intensiv: Essen, Sex, Sport, Alkohol, Workaholism, das Internet. Der kurzfristige Effekt, ein negatives Gefühl nicht spüren zu müssen, geht jedoch auf Kosten unserer gesamten Lebendigkeit. Denn wir können unsere Gefühle nicht selektiv betäuben. Wenn wir den Schmerz betäuben, betäuben wir die Freude ebenfalls. Wir können dadurch auch kein Reservoir an positiven Gefühlen anlegen, aus dem wir schöpfen können, wenn schwerere Zeiten kommen. Wholehearted living bedeutet, die Gefühle zu fühlen, ein Bewusstsein von unseren Betäubungsstrategien zu haben und zu versuchen, in den Schmerz reinzugehen.

4. Freude und Dankbarkeit kultivieren – Den Mangel und die Angst vor der Dunkelheit loslassen

„I believe a joyful life is made up of joyful moments gracefully strung together by trust, gratitude, inspiration, and faith.“ (81)

Freude und Dankbarkeit sind keine Konstanten, sondern sie kommen zu uns in Momenten. Sie sind prekär, es gibt keine Garantien, dass sie anhalten. Daher verbieten wir uns oft, sie überhaupt zu fühlen. Statt die Freude zu genießen, malen wir uns aus, wie schrecklich der Verlust einer geliebten Person oder Sache wäre. Wir denken, wenn wir uns weniger freuen und weniger dankbar sind, schmerzt der Verlust weniger. Wir täuschen uns. Stattdessen verpassen wir genau das, was uns in einer schweren Zeit Durchhaltevermögen gibt. In unserer Perspektive sind wir oft so auf den Mangel und den potentiellen Verlust fokussiert, dass wir die Sachen übersehen, die wir haben. Es geht dabei nicht darum, einen Mangel schön zu reden, sondern das Schöne überhaupt wahrzunehmen, auch die Dinge zu sehen, die genug sind. Praktiken der Dankbarkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns unsere Freude vergegenwärtigen und zugestehen.

5. Intuition und Vertrauen kultivieren – Die Notwendigkeit der Gewissheit loslassen

„Das Gegenteil von Vertrauen ist nicht Zweifel, sondern Gewissheit.“ (Lamott, zit. nach Brown, 91)

Brown beschreibt, wie wichtig es ist, Strategien zu entwickeln, angesichts von Ungewissheit gelassen zu bleiben. Sie ermutigt uns, mehr Selbstvertrauen in unsere Intuition zu entwickeln, vor allem dann, wenn diese uns sagt, dass wir noch mehr Zeit oder Informationen brauchen, bevor wir eine Entscheidung treffen können. Bei der Intuition handelt es sich um eine Blitzeinschätzung, ob wir uns einer Sache schon sicher sind oder nicht. Da wir den Zustand der Ungewissheit jedoch so schwer aushalten, übergehen wir oft unsere Intuition zugunsten schneller Gewissheit und stürzen uns mitunter Hals über Kopf in große Entscheidungen. Unserer Intuition zu folgen, bedeutet Unsicherheiten auszuhalten, wenn wir noch nicht für eine Entscheidung bereit sind: „Intuition is not a single way of knowing – it’s our ability to hold space for uncertainty and our willingness to trust the many ways we’ve developed knowledge and insight, including instinct, experience, faith, and reason.“ (89)

Auch Vertrauen/Glaube ist entscheidend für einen wohltuenden Umgang mit Ungewissheit. Viele unserer Konflikte und Anspannungen entstehen Brown zufolge aus unserer Angst vor der Unsicherheit und davor, falsch zu liegen. Vertrauen zu entwickeln in einem Kontext, in dem es ständig darum geht, „Recht zu haben“, wo sich die eigene Position nur dann stark an fühlt, wenn wir uns ganz sicher sind, ist ein Wagnis. Jedoch ein lohnendes, denn mit Vertrauen können wir uns angesichts von Ungewissheit entspannen. „Faith is a place of mystery, where we find the courage to believe in what we cannot see and the strength to let go of our fear of uncertainty.” (90) Brown betont, dass weder Vertrauen/Glaube noch Intuition als Gegensatz zur Vernunft zu denken sind, sondern dass sie zusammenarbeiten. Als Anekdote merkt sie an, dass es oft die Wissenschaft ist, die von Ungewissheit nicht beunruhigt, sondern inspiriert ist, während religiös Gläubige mitunter keine Flexibilität in ihrem Dogma erlauben.

6. Kreativität kultivieren – Vergleiche loslassen

Es gibt laut Brown nicht kreative Leute und unkreative Leute, sondern nur Leute die ihre Kreativität einsetzen und solche, die es nicht tun. Wir geben oft unsere Kreativität zugunsten von „Leistungen/Anschaffungen“ auf, bei denen es darum geht, einen möglichst „hohen“ Lebenstandard zu erreichen. Den Maßstab dafür bilden jedoch die „Leistungen/Anschaffungen“ anderer Leute. Vergleiche motivieren uns zu Konformität und Wettbewerb. Brown beschreibt, wie wir uns permanent im Paradox bewegen, uns gleichzeitig anpassen und herausragen zu müssen. Wenn wir uns vergleichen, versuchen wir meist, so zu sein wie alle, nur besser.

Wenn wir die ganze Zeit damit beschäftigt sind, uns anzupassen und zu konkurrieren, ist es naheliegend, dass es schwer ist, Zeit für Kreativität, Dankbarkeit und Freude einzurichten. Dies ist schmerzhaft, denn Kreativität hilft uns, unsere Originalität zum Ausdruck zu bringen, Sinn herzustellen und in Verbindung mit uns selbst und anderen zu gehen.

7. Spiel und Erholung kultivieren – Erschöpfung als Status-Symbol und Produktivität als Selbstwert loslassen

Brown stellt fest, dass die Leute, die wholehearted leben, sich als integralen Bestandteil Zeit für Spiel nehmen. Sie machen einfach Dinge, die Spaß machen. Spiel hilft uns Empathie zu fördern, mit komplexen sozialen Situationen umzugehen und es bildet den Kern von Kreativität und Innovation. Beim Spiel geht es darum, etwas nur deshalb zu tun, weil wir es wollen. Wir brauchen Spiel ebenso wie Schlaf. In einer Gesellschaft, in der Selbstwert an Produktivität geknüpft ist, erscheinen Spiel und Erholung schnell als Zeitverschwendung oder begegnen uns gar als Stress (das sollen wir auch noch unterbringen!). Stattdessen behandeln wir Erschöpfung/Verausgabung als Statussymbol. Die Konsequenz ist Müdigkeit als Dauerzustand. Wir denken, Leistungen und Anschaffungen bringen uns Freude und Bedeutung, wenn Erstere es eigentlich sind, die uns so müde machen und  verunmöglichen Letztere zu erfahren.

Es ist keine einfache Entscheidung, Spiel und Erholung als Priorität zu behandeln, wenn die gesellschaftliche Erwartungshaltung darin besteht, sich in der Konkurrenz bis zum Letzen zu verausgaben. Brown beschreibt, dass diese Entscheidung für sie als Elternteil extrem angstbesetzt war. Ist es okay, dass die Tochter nicht Französisch lernt oder Geige spielt, dafür, dass es mehr gemeinsame Zeit zum Rumhängen gibt? Zählt es auch, ruhig und glücklich zu sein? Ihre Antwort: Ja, wenn es für uns zählt. Wenn uns wichtig ist, was andere Leute denken, dann zurück zu Erschöpfung und zum Leisten für den Selbstwert. Sie entscheidet sich heute für Spiel und Erholung (und ich auch).

8. Gelassenheit und Innehalten kultivieren – Sorge/Anspannung als Lifestyle loslassen

Sorgen und Anspannung definieren oft unser Leben. Mir selbst mit Wertschätzung und Verständnis zu begegnen führt nicht zu einem sorgenfreien Zustand. Es ermöglicht mir jedoch, ein Bewusstsein davon zu entwickeln, was bei mir Sorgen und Anspannung auslöst und Strategien zu entwickeln, um auch wenn ich aufgewühlt und angespannt bin, Ruhe bewahren zu können und in meinen Handlungen autonom zu bleiben, statt reflexhaft zu reagieren. Gelassenheit kultivieren heißt Brown zufolge Perspektive und Achtsamkeit erzeugen, wenn wir mit bestimmten emotionalen Reaktionsmustern zu tun haben. Welche Gefühle lösen bei mir reflexhafte Handlungen aus und wie kann ich nicht-reflexhafte Reaktionen üben (z.B. durch atmen)?

Innehalten ist ebenfalls ein entscheidender Bestandteil, um aktiv und freiwillig mit emotionalen Reaktionsmustern umzugehen. Innehalten öffnet einen Raum dafür, was in uns ist: „Stillness is not about focusing on nothingness; it’s about creating a clearing. It’s opening up an emotionally clutter-free space and allowing ourselves to feel and think and dream and question.“ (108) Angst hält uns oft vom Innehalten ab. Wir befürchten, so Brown, dass uns im Moment des Innehaltens die Wahrheit unseres Lebens einholt. Die Wahrheit wie müde, ängstlich und überfordert wir uns manchmal fühlen. Durch Innehalten können wir uns erlauben, herauszufinden, wer wir sein wollen. Wir können uns zugestehen, uns mehr Zeit dafür zu nehmen, weniger zu machen und weniger zu sein.

9. Sinnhaftes Arbeiten kultivieren

Wir alle haben Fähigkeiten und Talente. Wenn wir sie nicht nutzen, leidet unser Wohlgefühl. Wir fühlen uns u.a. unverbunden, frustriert, leer, enttäuscht, traurig. Ein Problem stellt dar, dass sinnhafte Arbeit nicht unbedingt die Rechnungen zahlt. (Leider hat Brown auch keine Lösung dafür in dem Buch.) Nur wir selbst können definieren, was für uns sinnhaft ist, aber der Widerstand der gesellschaftlichen Erwartungen ist mächtig. Ein Weg ist laut Brown, sich angesichts der Frage „wer bist du?“ nicht vor allem mit der Arbeit zu identifizieren, die einem das Haupteinkommen verschafft, sondern die vielen Facetten der eigenen Persönlichkeit sichtbar zu machen.

10. Lachen, Singen und Tanzen kultivieren – Cool- und immer-in-Kontrolle sein loslassen

„Dance like no one is watching. Sing like no one is listening. Love like you’ve never been hurt and live like it’s heaven on Earth.“ (Twain, zit. nach Brown, 117)

Lachen, singen und tanzen sind Brown zufolge essentielle Wege, unsere Geschichten und Gefühle auszudrücken, zu teilen, zu zelebrieren und zu betrauern. Sie schaffen emotionale und geistige Verbindung, wenn wir Trost, Feiern, Inspiration oder Heilung brauchen. Lachen verschafft Erleichterung und Verbindung, vorausgesetzt wir lachen miteinander, nicht übereinander. Musik berührt uns, weckt Gefühle in uns. Wenn wir tanzen, können wir das, was in uns ist, mit Einsatz des ganzen Körpers ausdrücken. Dies ist für viele sehr angstbesetzt, da wir uns mit dem ganzen Körper sichtbar und damit auch verletzbar machen. Dass wir gelernt haben, uns dafür zu schämen, unsere Lebensfreude auszudrücken ist mehr als tragisch. Alle Kinder tanzen mit größter Freude, egal, wie sie dabei aussehen oder ob sie ein Gefühl für den Rhythmus haben. Bis sie lernen, dass sie es wichtig nehmen sollen, was andere Leute über sie denken. Uns in dieser Hinsicht vom Urteil anderer Leute frei zu machen, ist riskant, aber erhöht unseren Handlungsspielraum und unsere Möglichkeiten Gefühle zu empfinden und auszudrücken enorm.

Im eigenen Leben bedeutsame Veränderungen zu machen, ist beängstigend und ungemütlich. Liebevoll auf sich selbst mit allem drum und dran zu blicken, zu riskieren sich mit Freude und Schmerz lebendig zu fühlen und entgegen aller (inneren und äußeren) Widerstände eine Praxis zu entwickeln, die diesen Prozess befördert, ist abenteuerlich.

„In a society that says ‚Put yourself last‘, self-love and self-acceptance are almost revolutionary.“ (30)

Brené Brown (2010: The Gifts of Imperfection. Let Go of Who You Think You’re Supposed to Be and Embrace Who You Are, Hazelden Publishing: Center City.