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1. Brief von Anska an Lia

Erster Brief von Anska an Lia

Jahr 53 der neuen Zeit (ca 60 Jahre nach dem großen Krachbumm)

Liebe Lia,

wie geht es dir so, in deinem neuen Distrikt? Bist du gut angekommen und ist alles so interessant, wie du es dir erhofft hattest? Ich freu mich jedenfalls schon sehr darauf, was du erzählst, ich hoffe, du hast bald Zeit und Lust zu schreiben. Ich habe mich in Hannover schon ganz gut eingelebt. Also ich weiß zumindest, wo ich Zutaten zum Kochen bekomme und ich habe auch schon die besten Falafel der Stadt gefunden. Wenn du mich mal besuchen kannst, können wir zusammen da hingehen 🙂

Die Arbeitsteilung ist hier ein bisschen anders organisiert, als zu Hause, so ganz steige ich noch nicht durch. Auf jeden Fall gibt es mehrere Kategorien Produktion & Distribution, Planung & Verwaltung, Reparatur & Entsorgung und vielleicht noch andere? So genau konnte mir das noch niemand sagen. Was mich etwas wundert, weil gleichzeitig alle davon ausgehen, dass jede*r als Richtwert so 4 Stunden ihres Tages damit verbringt und man das wählen kann. Aber der Sinn der Unterteilung scheint nicht so ganz klar zu sein. Vielleicht noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als mensch noch dachte, es müsste irgendwie gleichmäßig verteilt sein, zwischen den Menschen und über das Leben hinweg, welche Art von Arbeit jemensch tut. Inzwischen sind sie aber hier dazu übergegangen, das einfach nach Motivation und Bedarf zu vergeben.

Ich habe natürlich, du kennst mich ja, Klärwerk als Wunscharbeitsort angegeben, als ich bei der Willkommensstelle gefragt wurde, ob ich schon etwas arbeiten möchte. Das Klärwerk hier ist echt cool, wir haben ein paar superschöne, abgefahrene Sumpfpflanzen und in einem älteren Teil, der öfter mal verstopft, muss mensch noch richtig in Scheiße rühren. Die Kolleg*innen haben sich ziemlich gefreut, dass ich darauf Bock habe. Sind auch alle ganz nett und gerade sind wir auch recht viele hier.
In den Lebensmittellagern und Verteilzentralen scheint es gerade knapper zu sein, deshalb überlegen auch einige der Kolleg*innen, mal dorthin zu wechseln. Die, die da arbeiten, melden gerade über das lokale Infosystem, dass sie gerade länger und härter arbeiten, als es Spaß macht. Und dass nicht mal genug Zeit ist, sich zwischendurch in Ruhe zuzuhören. Deshalb würden in spätestens 2 Wochen ein paar Zentren schließen und das heißt logischerweise längere Anfahrtszeiten und vielleicht sogar Wartezeiten für alle, was natürlich niemand will. Aber naja, aus der Verwaltung und vom Klärwerk haben ja schon einige gesagt, dass sie gern wechseln, insofern wird es soweit auch nicht kommen.

Ansonsten ist es hier auch noch üblich, sich so ca 2-3 Stunden am Tag mit Sorgearbeiten zu beschäftigen, alte Menschen und Kinder sind hier ganz gut eingebunden und kommen mir recht fröhlich vor. Ich beteilige mich gerade an einem Empathiecafe, was auch ganz schön ist, aber nur 2 mal in der Woche. Ich brauche gerade noch viel Zeit zum Ankommen und Stadt erkunden und Verarbeiten und Schlafen. Und um dich zu vermissen…

Perspektivisch würde ich gern in die Sterbe- und Trauerbegleitung reinschnuppern, ich kann mir vorstellen, dass das interessant für mich wäre und dass ich das auch gut könnte. Mir wurde ja schon zu Hause und auch hier im Empathiecafe schon mehrmals rückgemeldet, dass meine Art, den Raum zu halten, wohltuend für Menschen war, die gerade trauerten.

Naja, ich hör jetzt mal auf, heute Abend ist noch Stadtteilversammlung, zu der ich hinwill. Das Entscheidungssystem hier ist für mich bisher auch noch etwas undurchsichtig. Aber irgendwie scheinen die meisten, die schon länger hier sind, zu finden, dass sie viele Möglichkeiten haben sich einzubringen und ihr Feedback auch gehört und mitbedacht wird. Auf der letzten Versammlung, wo ich war, waren dann allerdings nur 5 Leute und es gab auch gar keine anstehenden Entscheidungen. Da haben wir dann kurz gefeiert, dass anscheinend alles gut läuft und haben uns dann über unsere Leben ausgetauscht. Mal gucken, ob ich heute mehr erleben kann.

In ein paar Wochen gibt es auch noch eine Infoveranstaltung, wo die hiesigen Kreise, Arbeitsgruppen und Systeme erklärt werden, für Leute die neu hier sind oder sich jetzt erst interessieren. Da will ich auch gern hin. Sowas interessiert mich ja immer.

Naja, dies war jetzt eine etwas technische Mail mit ersten Eindrücken. Aber, liebe Lia, wenn du mir etwas Ähnliches schicken wollen würdest, würde ich mich wirklich von Herzen freuen.

Eine dicke Umarmung,

deine Anska